Was Angestellte von Amazon halten und warum sie an Streiks teilnehmen oder nicht, erläutert Sabrina Apicella im Interview.

Personen im Amazon-Lager
© Amazon

Sabrina Apicella hat am Institut für Soziologie und Kulturorganisation der Leuphana-Universität Lüneburg ihre Dissertation mit dem Titel „Das Prinzip Amazon. Vom Wandel der Verkaufsarbeit zu Streikmotivationen im transnationalen Versandhandelsunternehmen“ geschrieben. Im Interview erklärt sie, warum Amazon vielleicht gewerkschaftsfreundlicher werden wird, warum es bei den deutschen Streiks gar nicht um höhere Löhne geht und welche unterschiedlichen Einstellungen es bei den verschiedenen Amazon-Mitarbeitern gibt. 

  • Der Kampf Amazon – Verdi läuft in Deutschland vor allem im Weihnachtsgeschäft in schöner Regelmäßigkeit: Verdi ruft zu Streiks auf, Amazon trifft das nach eigener Aussage wenig, danach geht alles seinen gewohnten Gang. Haben Sie die Hoffnung, dass sich das Katz-und-Maus-Spiel in Deutschland mittelfristig ändert – und wenn ja, warum?

Sabrina Apicella: Sie sprechen damit an, dass sich das Amazon-Management in Deutschland bis heute weigert, mit Verdi einen Tarifvertrag abzuschließen. Das stimmt zwar, tatsächlich hat sich jedoch seit den ersten Streiks 2013 vieles verändert. Die Arbeiter*innen stehen nun seit acht Jahren organisiert und kollektiv für ihre Interessen ein und sind mittlerweile über die deutschen Grenzen hinaus gut vernetzt. Mir ist kein vergleichbarer Tarifkonflikt bekannt, der mit solcher Beharrlichkeit und Entschlossenheit ausgefochten wird.

Seither wurden außerdem Betriebsräte gegründet, der Anteil von Leiharbeiter*innen stark reduziert und die Löhne jährlich angehoben. Das zeigt: Amazon reagiert empfindlich auf Kritik in den Medien und vor allem auf die gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten. Aus ihrer Sicht dürfte es aber in der Tat frustrierend sein, dass sich das Management nicht stärker auf Kompromisse einlässt. Was das Unternehmen regelmäßig mit Streiks quittiert bekommt. 

Auf der anderen Seite ist Amazons Onlineversandhandel nicht mehr derselbe wie vor acht Jahren. Die Zahl der Standorte hat sich seit 2013 mehr als verdoppelt, Amazon expandiert weiterhin weltweit. Im letzten Jahr hat die Onlineversandhandelssparte global betrachtet die Umsätze gesteigert, gilt als Corona-Krisen-Gewinner. Das erhöht auch den Umverteilungsspielraum.

Darum könnte Amazon künftig mehr auf die Gewerkschaften zugehen

Amazon hat in diesem Jahr für ganz Italien einen Tarifvertrag eingeführt oder in den USA standortübergreifend gleiche Stundenlöhne in Höhe von mindestens 18 Dollar versprochen. Hierin zeigt sich, dass es durchaus Kompromisse eingeht. Die Nachfrage nach Amazon-Shopping steigt weiter, Amazon hat jedoch an vielen Orten Schwierigkeiten, Arbeitskräfte zu finden, um sein Versprechen der schnellen Lieferung einzuhalten. Unter diesen Bedingungen ist es denkbar, dass sich das Unternehmen trotz seiner bisher gewerkschaftsfeindlichen Haltung auf mehr Mitbestimmung und höhere Löhne einlässt, vielleicht sogar in Form eines Tarifvertrags. Ob sich Amazon aber darauf einlässt, die Arbeitsprozesse umzugestalten, um sie gesünder zu gestalten – wie es Verdi fordert – bleibt unwahrscheinlich. Dies könnte auch weiter Menschen in den Protest treiben. 

  • Durch die Abstimmung in Bessemer/USA und die weitere weltweite Vernetzung der Gewerkschaften rückt das Thema auch international mehr in den Fokus – Amazon bleibt derzeit jedoch bei seiner Linie. Was können – oder werden – die Gewerkschaften noch alles tun? Oder sind diese einfach zu machtlos oder in dieser Form sogar überholt?

Nicht nur Amazon agiert global, sondern auch die Gewerkschaften kommen über Länder und auch Sparten hinweg zusammen. Amazon ist schon lange nicht mehr bloß Versandhändler, sondern auch IT-Dienstleister, Software-Entwickler, Logistiker, Verleger oder Medien-Produzent. Das spiegelt sich zunehmend in der gewerkschaftlichen Vernetzung wider. 

Warum Amazon-Gewerkschaften es schwer haben

Sabrina Apicella

Eine Schwierigkeit der Gewerkschaften ist sicher, dass sich einzelne Standorte binnen Monaten eröffnen lassen, das Organisieren von Beschäftigten jedoch Zeit braucht für Austausch und den Aufbau von Vertrauen und Konfliktfähigkeit – denn die Schwelle zu Streiken ist hoch. Hier werden die Gewerkschaften nicht umhinkommen, Personal und Ressourcen bereit zu stellen, um mit der Expansion Schritt zu halten und mit Aktionen entsprechend Effekte zu erzielen.

Eine zentrale Frage wird hierbei sein, ob es den Gewerkschaften gelingen wird, die sehr heterogenen Belegschaften zu erreichen: Damit meine ich zum Beispiel Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichten, verschiedener Geschlechter und Altersgruppen oder mit Bildungs- und Erwerbsbiografien, die vom Schulabbruch bis zur akademischen Laufbahn reichen. Eine Gewerkschaft, die sich hier zu sehr auf einen Typus Arbeiter*innen festlegt, wird es schwer haben.

  • Die historische Wahl zum möglichen Beitritt in die Gewerkschaft fiel trotz aller wiederkehrender Kritik zu Gunsten Amazons aus – wie erklären Sie sich das für die US-Mitarbeiter?

In den USA ist die Hürde, dass eine Gewerkschaft die Interessen der Belegschaft vertreten darf, sehr hoch. Das Beispiel der Abstimmung in Bessemer im US-Staat Alabama zeigt deutlich, dass dies an Amazon-Standorten mit einem Ringen zwischen Kapitalseite und Arbeitsseite um die Gunst der Belegschaft verbunden ist. In der Auszählung wurden Stimmen von Amazon angezweifelt, das Auszählungsergebnis wiederum von der antretenden RWDSU angefochten, da Amazon ihr zufolge unlauter Einfluss auf die Abstimmung genommen habe. Wir reden also von einem in der Tat historischen Ereignis, das meines Wissens nach noch im Gange ist. 

Darum streiken Amazon-Mitarbeiter in Deutschland

  • Sie haben auch die Streiks in Deutschland untersucht, u. a. 2016 in Leipzig, und außerdem Studien zum Bewusstsein von Amazon-Arbeiter*innen in den Logistikzentren ausgewertet. Etwas salopp: Wie „tickt“ der durchschnittliche Amazon-Arbeiter? Und warum streikt er/sie – oder eben nicht?

In meiner Forschung zu Streikmotiven habe ich eine Polarisierung der Belegschaft festgestellt: Manche sind unzufrieden mit der fabrikartigen Arbeit, sind beispielsweise gestresst und fühlen sich kontrolliert – andere erleben die gleichen Tätigkeiten als interessant und haben keine Sorge, an der Arbeit zu erkranken. Einen wichtigen Unterschied markiert auch das Vertrauen in die Gewerkschaft. Ein unsicherer Vertragsstatus hängt wiederum mit einer geminderten Bereitschaft zum Streik zusammen. Interessanterweise werden die Unterschiede zwischen Geschlechtern oder Menschen mit oder ohne Migrationsgeschichte oder mit unterschiedlichen Bildungsstatus nicht relevant für das Streikverhalten – Diversität findet sich also auf beiden Seiten wieder. Überraschend ist auch, dass Lohnsteigerungen kein treibendes Motiv der Streikenden sind. 

Übertragen wir dieses Ergebnis der Polarisierung auf den bisherigen Ausgang in Bessemer, so ließe sich übrigens vermuten, dass die Unzufriedenen und der Gewerkschaft Wohlgesonnenen sicher für eine gewerkschaftliche Vertretung gestimmt haben. Die übrigen Beschäftigten möglicherweise jedoch (bislang) zufrieden waren mit der Arbeit oder die Gewerkschaft ihr Vertrauen bisher nicht gewinnen konnte. 

Saisonarbeitskräfte sind ein wesentlicher Teil der Personalpolitik bei Amazon. Im Weihnachtsgeschäft machen sie manchmal sogar die Hälfte der Belegschaften aus. Der Unterschied ist, dass sie sich nicht so stark an das Unternehmen und auch Kolleg*innen gebunden fühlen. Sie sind sozusagen mit dem Kopf und Herzen schon wieder raus aus dem Laden, wenn sie eingestellt werden. Daher ist ihre Bindung an das Unternehmen auch weniger fest als bei der Stammbelegschaft, die Schwelle früher zu kündigen, ist niedrig. 

So denken Saison-Arbeitskräfte über Amazon

Es ist gar nicht so, dass sich alle Saisonarbeiter*innen eine Fortsetzung des Anstellungsverhältnisses erhoffen. Viele unter ihnen sehen Amazon als Übergangslösung. Ob Arbeiter*innen bleiben wollen, hängt von verschiedenen Faktoren ab.

Personen mit Fluchtgeschichte zum Beispiel sind oft in der Situation, dass ihr Aufenthaltstitel gebunden ist an die Ausübung von Erwerbsarbeit. Der Schichtbetrieb kann aber dem Wunsch nach Teilnahme an Deutschkursen entgegenstehen, wodurch Konflikte entstehen. Personen, die aus dem Bezug von Arbeitslosengeld II in die Arbeit vermittelt werden, stehen ebenfalls unter institutionellem Druck, die Arbeit anzunehmen. Ihnen drohen bei Abbruch der Anstellung und erneuter Erwerbslosigkeit dann Sanktionen in Form von Kürzungen der Mindestabsicherung.

„Personen mit wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt können dankbar sein“

Wenige der Saisonarbeiter*innen würden sagen, dass sie der interessanten Arbeit wegen bei Amazon arbeiten. Gerade Personen, die ansonsten auf dem deutschen Arbeitsmarkt wenige Chancen finden, können jedoch dankbar sein gegenüber Amazon. Dies oder der Wunsch nach Vertragsverlängerung kann sich in besonders engagiertem Arbeiten zeigen und darin, Vorgesetzten möglichst positiv auffallen zu wollen. Es gibt jedoch auch pragmatische Saisonarbeitskräfte, beispielsweise Studierende oder Personen, die im Anschluss einer anderen Tätigkeit nachgehen können. Sie werden wenig engagiert arbeiten und sind offen kritisch gegenüber Amazon eingestellt. 

  • Wenn Sie Jeff Bezos ein Mal persönlich treffen würden, was würden Sie Ihm gern sagen – oder fragen?

Da ich zum Bewusstsein von Arbeiter*innen geforscht habe, hat mich ein Treffen mit Jeff Bezos noch nie interessiert. Lieber treffe ich Beschäftigte – besonders an die in Bessemer habe ich viele Fragen: Wie die Black-Lives-Matter-Bewegung beispielsweise ihre Auseinandersetzung am Standort beeinflusst hat. Und wie es weiter gehen wird mit der Organisierung in den USA, also „im Herzen der Bestie“, wie einmal ein deutscher Amazon-Arbeiter zu mir sagte. 

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Buch „Das Prinzip Amazon“ von Sabrina Apicella kann als PDF hier runtergeladen werden.

 

/
Geschrieben von Markus Gärtner