Die 5.300 Beschäftigten im Amazon-Lager in Staten Island, New York, klagen über Abmahnungen selbst für Kleinigkeiten. In dem Lager soll Amazon innerhalb nur eines Jahres über 13.000 Abmahnungen ausgesprochen haben. Ein Beschäftigter wehrt sich gegen die Praktiken seines ehemaligen Arbeitgebers vor Gericht. 

Frau im Amazonlager bearbeitet Paket
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22 Fehler hatte Gerald Bryson 2018 bei einer Handzählung von Tausenden von Artikeln im Amazon Logistiklager JFK8 in Staten Island, New York, gemacht. Dafür erhielt er prompt eine Abmahnung von seinem Vorgesetzten. Sollten ihm solche Fehler noch sechsmal innerhalb des kommenden Jahres passieren, würde er seinen Job in einem der größten Amazon-Lager der USA verlieren.

Diese kleinliche Überwachung und Bewertung der Belegschaft hat wohl System. Im Zeitraum von April 2019 bis April 2020 wurden laut einem Amazon-Anwalt über 13.000 Abmahnungen an die nur 5.300 Beschäftigten im Lager in Staten Island ausgesprochen. Kein Wunder also, dass genau dieses Lager im April 2022 das erste Amazon-Lager mit einer gewerkschaftlichen Vertretung wurde, der Amazon Labor Union (ALU).

Dokumente werden in Brysons Prozess veröffentlicht

Gerald Bryson verlor seinen Job jedoch schon im April 2020 nach einem Streit mit einem Kollegen. Er legte dagegen Beschwerde bei der US-Arbeitsbehörde National Labor Relations Board (NLRB) ein und hatte Erfolg: Ein US-Gericht urteilte dieses Jahr, dass es sich um eine unrechtmäßige und „diskriminierende Entlassung“ gehandelt habe und dass Amazon Bryson wieder einstellen muss. Amazon legte allerdings Berufung gegen das Urteil ein. 

Deshalb geht der Prozess zwischen Bryson und Amazon nun weiter und in diesem Zusammenhang wurden die Dokumente über Amazons gehaltvolle Abmahnpraktiken veröffentlicht. Wie Reuters berichtet, zeigen die zahlreichen Dokumente und Interviews mit ehemaligen und aktuellen Beschäftigten, dass Amazon enormen Druck ausübt, damit die Belegschaft akkurat und schnell arbeiten. Die NLRB bezeichnet das als „eklatant unfaire Praktiken“. 

Amazon wehrt sich gegen die Vorwürfe

Davon will Amazon nichts wissen und erklärt, dass das positive Feedback an die Belegschaft das schlechte zahlenmäßig deutlich überrage. Man gebe den Angestellten viel Feedback, um ihnen zu helfen und um sicherzustellen, dass sie die Anforderungen verstehen, die an sie gestellt werden. Zudem wären nur 25 Prozent des Feedbacks auf „Möglichkeiten zur Verbesserung“ konzentriert, wie es Amazon nennt, und der Rest betreffe Anwesenheitszeiten. 

Auch in anderen Logistiklagern gibt es strenge Regeln 

Im Zuge des Prozesses zwischen Bryson und Amazon hat Amazon nicht nur angegeben, dass in Staten Island über 13.000 Abmahnungen innerhalb eines Jahres ausgesprochen wurden. Es wurden auch mehr als 600 positive, negative und neutrale Mitteilungen an Beschäftigte in drei Logistiklagern vorgelegt, die zwischen 2015 und 2021 ausgesprochen wurden, und die eine Übersicht über das Feedback geben sollen, das Amazon-Beschäftigte erhalten. 

Auch wenn nicht klar ist, ob die von Amazon bereitgestellten Dokumente wirklich eine repräsentative Auswahl von Feedback-Mitteilungen darstellt, gibt es darin Fälle von Abmahnungen für kleinliche Verstöße. So wurden etwa Arbeiter in New Jersey abgemahnt, die sechs Minuten Pause machten oder ihre Pause um vier Minuten überzogen. Ein anderer erhielt eine Warnung, weil er nur 94 Prozent des Arbeitspensums erreichte. 

„Es war fürchterlich“ 

Der Prozess zwischen Bryson und Amazon geht derweil weiter. Darin soll nun auch genau nachvollzogen werden, welche Kritik Bryson erhielt. Sein Job war es, Eimer mit Schrauben und anderen Kleinteilen durchzuzählen. Dabei erhielt er eine Warnung, als er nur 295 Artikel pro Stunde zählen konnte, da das Unternehmen 478 erwartete. „Es war fürchterlich“, beschreibt Bryson den mentalen Druck. 

Die gewünschte Zählrate konnte er zwar irgendwann ohne Fehler erreichen. Aber nur unter Höchstanstrengungen. Wie Reuters berichtet, waren seine Füße geschwollen und sein Körper tat weh. Schon der Weg vom Arbeitsplatz zum Auto habe sich angefühlt, als ob er 1.000 Jahre alt sei. 

Ob er seinen Job bei Amazon wirklich zurückwill, weiß Bryson noch nicht. Doch als Mitglied in der ALU ist er sich sicher, dass es den anderen Beschäftigten zeigen werde, dass sie für sich eintreten können, wenn er wieder zurück an seinen Arbeitsplatz kommen könnte. 

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Geschrieben von Patrick Schwalger