In ihrem Buch „Inside Amazon: My Story“ berichtet Gisela Hausmann über ihre Arbeit in einem Amazon-Logistiklager und geht mit dem Unternehmen und Jeff Bezos hart ins Gericht.

Gisela Hausmann
Gisela Hausmann

Die gebürtige Österreicherin hat schon 1997 erste Bücher via Amazon veröffentlicht und war eigentlich begeistert von dem Unternehmen. Das änderte sich aber, als sie selbst im Logistiklager DSC3 in ihrer US-Heimatstadt Greenville anfing und eineinviertel Jahre bis Dezember 2020 dort arbeitete. In ihrem jetzt erschienenen Buch „Inside Amazon: My Story“ beschreibt sie ihre Erfahrung – von diskriminierenden E-Mail-Adressen, „idiotischen“ Wettbewerben, dem Kampf um mehr Menschlichkeit und warum Jeff Bezos ihr Buch trotzdem gut finden könnte.

Amazon Watchblog: Sie haben über ein Jahr in einem Amazon-Logistiklager in den USA gearbeitet und dabei jede Menge abstruse Fehler bei dem Mega-Unternehmen gesehen – was war für Sie am bedrückendsten?

Gisela Hausmann: Ich glaube, dass ich am meisten mit der Diskrepanz zwischen dem Image, das Amazon sich selbst gibt, und der Realität im Logistiklager gerungen habe. Beinahe jedes Wirtschaftsmagazin in der westlichen Welt hat über Amazons „14 Prinzipien für Führungskräfte” geschrieben und Jeff Bezos dafür komplimentiert. Daher dachte ich viele Jahre, Amazon funktioniere so perfekt, dass sie jede Minute verplanen. Als ich aber bei Amazon arbeitete, konnte ich die Anwendung der Prinzipien nirgends entdecken, außer der „Gezielte Einsatz von Ressourcen (Sparsamkeit).“

Wenn Amazon die gleiche Begeisterung, die sie bei der Entwicklung von Kindle oder Alexa angewendet haben, auch beim Betreiben ihrer Logistik anwenden würden, würde man meiner Meinung nach nicht jede Woche über Amazon-Logistik in der Zeitung lesen. 

Vor allem der Zeitdruck ist ein Problem. In den Europa-Logistiklagern und zuletzt auch bei den Lieferanten gab es schon einen „Pinkel-Skandal“haben Sie Ähnliches in ihrem US-Lagern beobachtet?

Nein, ich persönlich habe nie jemanden über diese Probleme reden gehört. Allerdings habe ich die Fahrer nie getroffen. Meine Nachtschicht endete um 4:45 Uhr in der Früh und die Fahrer kamen erst um sechs Uhr. 

Power Hours bei Amazon – Wettbewerb im Pakete sortieren, morgens um drei Uhr

Sie erwähnen in Ihrem Buch auch die „idiotischen“ sogenannten Power Hours bei Amazon – was hat es damit auf sich?

Power Hours sind Wettbewerbe, bei denen der/die Mitarbeiter*in, der/die meisten Pakete sortiert, einen Preis gewinnt. Üblicherweise wurde dieser Wettbewerb um 3:30 Uhr in der Früh angesagt, wenn der Manager die Produktionsrate steigern wollte, damit so viele Pakete wie möglich an die Fahrer übergeben werden konnten. Aber auch Amazons Mitarbeiter machen nicht bei jeder (verrückten) Idee mit. Wie alle Menschen wollen auch sie glauben, dass sie wenigstens eine Chance haben zu gewinnen; speziell, weil das eine physisch anstrengende Tätigkeit ist, die auch zu körperlichen Schmerzen führt. 

Interessanterweise hat Amazon das scheinbar nicht verstanden oder so gesehen. Sie haben nämlich zwei kontraproduktive Aktionen gestartet: Auf der einen Seite veröffentlichte der Manager jeden Tag eine Liste, auf der zu lesen war, wie viele Pakete jeder Mitarbeiter am Vortag sortiert hat, und auf der anderen Seite sagte er, „Macht bei dem Wettbewerb mit. Der Beste gewinnt einen tollen Preis.” Das konnte nicht funktionieren: Denn indem der Manager den Mitarbeitern ihre Zahlen gab, zeigte er, dass nur die fünf besten Sortierer überhaupt eine Chance hatten zu gewinnen. Für mich war es erstaunlich, dass eine Firma, die sich selbst als Spitzenreiter in Datenanalyse bezeichnet, nicht sehen konnte, was jeder Warenhaus-Mitarbeiter im Kopf ausrechnen konnte. 

Freudscher Versprecher? Amazon schickt Mitarbeiter-Mails an kuriose Adresse

Die Logistik-Angestellten erhalten E-Mails über den E-Mail-Verteiler Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! – ein schlechter Scherz oder besonderes perfider Ausdruck von Amazons Menschenbild?

Ich weiß es nicht. Da ich ursprünglich aus Wien bin, kommt mir natürlich nichts anderes in den Sinn, als dass das ein Freudscher Versprecher ist. Diese Sache weist aber wieder auf ein systemisches Problem hin, nämlich dass es auch bei Amazons Personalabteilung keine Qualitätskontrolle gibt – sonst hätte ja irgendjemand diese diskriminierende E Mail-Adresse entdeckt.  

Vor allem in der Coronakrise standen die Bedingungen in den Amazon-Lagern in der Kritik. Haben Sie sich ausreichend geschützt und gewertschätzt gefühlt?

So wie ich es erlebte, hat Amazon auf die Covid-Krise genauso reagiert wie auf alle Krisen: Sie haben sofort ein paar hundert Millionen US-Dollar investiert, ein paar neue Sicherheitsmaßnahmen erfunden, jede Menge Regeln für die Mitarbeiter kreiert, wie wir uns verhalten sollten, und dann hat man weitergearbeitet, als ob nichts wäre. 

Von März bis Dezember 2020 habe ich jeden Tag Mitarbeiter gesehen, die ihre Masken unter der Nase trugen. Und die arbeiteten direkt in meiner Nähe. Das hat mich zu Beginn der Covid-Krise in eine solche Panik versetzt, dass ich mir die beste und teuerste Maske die ich finden konnte – ein Modell für Krankenhauspersonal – aus eigener Tasche gekauft habe; und ich habe diese Maske im Gebäude niemals abgenommen.  

Probleme mit der Arbeitszeit-App: Amazon-Mitarbeiter müssen um Gehalt kämpfen

Gisela Hausmann
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Dann gabs noch die eher beleidigenden Situationen. Als die Arbeitszeit-App ein Problem hatte, ist mir und auch anderen Mitarbeitern das Gehalt nicht richtig ausgezahlt worden, obwohl die App zeigte, dass wir im Lager gearbeitet haben. Statt dass das Personalbüro dieses Problem aber löste, mussten wir uns darum kümmern, dass wir unser Geld bekamen – und das bei einer Firma, die Milliarden scheffelte und auf Social-Media-Plattformen „Danke Amazon-Helden”-Imagevideos präsentierte. Auf Wienerisch nennt man das „Große Reden, nichts dahinter.”

Auch der Aufstieg in Amazons Karriereleiter scheint schwer: Sie haben als Akademikerin und Logistik-Expertin in der ersten Reihe im Verteilzentrum gearbeitet, viele Verbesserungsvorschläge gemacht, sind aber nicht befördert worden – woran liegt das? Und wer kommt bei Amazon nach oben?

Ich hatte den Eindruck, dass Amazon nur Ja-Sager fördert – Leute, die allen Anleitungen blind folgen. Menschen, die über das was sie sehen, nachdachten und Vorschläge brachten, schienen eher unerwünscht. Ich war auch nicht die einzige, der das passiert ist. Während der eineinviertel Jahre, die ich bei Amazon gearbeitet habe, habe ich immer wieder mit zwei ambitionierten, intelligenten Herren geplaudert, einer eher jung, der andere in meinem Alter, die auch beide „übersehen” wurden. 

Amazon hat gerade erst diverse Programme zur Verbesserung der Bedingungen gestartet – bringt das was?

Man muss abwarten, was die Betroffenen sagen, aber ich kann es mir nicht vorstellen. Speziell im März 2021, als Dutzende von Angestellten vom Warenhaus in Bessemer, Alabama von den Medien interviewt wurden, sagten die Mitarbeiter immer wieder dasselbe: „Wir sind keine Maschinen, wir wollen mehr Menschlichkeit.” 

Künstliche Intelligenz statt geforderter Menschlichkeit bei Amazon

Aber, statt dass Amazon ihnen Menschlichkeit gibt, geben sie den Mitarbeitern noch mehr Programme, die von künstlicher Intelligenz gesteuert werden. Künstliche Intelligenz ist aber das Gegenteil von Menschlichkeit.

Ich persönlich glaube, dass viele Probleme mit einer verlängerten, 45-oder 60-Minuten-Mittagspause gelöst werden könnten. Ein bisschen Zeit zum Entspannen, um mit Freunden zu plaudern und auch um in Ruhe auf die Toilette zu gehen, mit anderen Worten: mehr Menschlichkeit. Aber scheinbar will Amazon das nicht. 

Nicht nur die eigenen Mitarbeiter würden von Amazon vernachlässigt, sondern – entgegen der Amazon-typischen Kundenfokussierung – auch der Käufer, sagen Sie. Woran machen Sie das fest?

Amazons Suchmaschine ist nicht mehr das, was sie einmal war, was wahrscheinlich daran liegt, dass Amazon nun mehr als 100 Millionen Produkte führt. Darunter gibt es auch jede Menge Produkte mit mehreren Funktionen, zum Beispiel Elektrogeräte, die schleifen, sägen und bohren. Das wirft Fragen auf, die Amazon mit künstlicher Intelligenz zu lösen versucht, zum Beispiel: „Soll die Suchmaschine einem Kunden, der nach einem elektrischen Bohrer sucht, auch ein Multifunktionsgerät zeigen?” Vor dreißig Jahren hätte jeder Verkäufer diese Frage elegant und effizient gelöst. Heutzutage sind die die Hersteller der Geräte und auch die Kunden der Suchmaschine ausgeliefert. 

Buch-Autoren haben es auch schwerer, weil Buchtitel nicht geschützt werden können. Aus diesem Grund habe ich Autoren schon vor Jahren empfohlen, einen Titel erst zu wählen, nachdem sie nachgesehen haben, ob jemand anders den gewünschten Titel schon verwendet hat. 

Dazu kommt noch das Problem mit Amazons vielen Anzeigen. Hier in den USA ist es kein Geheimnis, dass sich Amazons E-Commerce-Plattform in eine „Pay-To-Play-Plattform“ („Wenn Sie mitspielen wollen, müssen Sie bezahlen”) verwandelt hat. Das sollte nicht nur den Händlern, sondern auch den Käufern zu denken geben. Bekommen diese das Produkt zu sehen, das sie suchen – oder die Produkte, die Amazon ihnen zeigen will? 

„Jeff Bezos macht, was für Jeff Bezos gut ist.“

Wie sehen Sie Ihren Ex-Chef Jeff Bezos? Und glauben Sie, dass sich mit Andy Jassy, dem neuen Chef, etwas bei Amazon verändern wird?

Ha… Ich habe Jeff Bezos vor Jahren irrsinnig bewundert, weil er das Verlagswesen und den Buchverkauf in das 21. Jahrhundert gebracht hat. Das war eine gigantische Leistung. Man hätte ja meinen müssen, dass die Buchkette Barnes & Noble, die damals fast 1.000 Geschäfte in den USA hatte, oder einer der fünf Riesenverlage in den USA sich damit auseinandergesetzt hätte. Aber die haben sich ein bisschen wie Kodak verhalten, die auch zu Beginn der Digitalisierung am Fotofilm festgehalten haben. Dieser Tage habe ich eher den Eindruck, Jeff Bezos macht, was für Jeff Bezos gut ist. 

Von Andy Jassy weiß ich nicht viel. Ich versuche aber, optimistisch zu denken, dass er der richtige Mann ist, um Amazons Probleme unter Kontrolle zu bringen. Und da ist viel zu tun. Auf der US-Wikipedia ist die Webseite „Kritik an Amazon” 15 Seiten lang. Möglicherweise macht Andy Jassy schon erste Versuche. Amazon hat ja vor Kurzem zwei Millionen Fake Products rausgeschmissen. Man kann also hoffen, dass das ein erster Schritt in die richtige Richtung war. 

Gesellschaftszerstörende Probleme bei Amazon

Wenn Amazon allerdings nicht die Probleme der Warenhäuser löst, von denen ich viele in meinem Buch beschrieben habe, und auch keine neue Position in Bezug auf die Steuersituation auf mehreren Kontinenten einnimmt, könnten die Dinge kompliziert werden. Denn im Unterschied zu der Frage, ob Amazon-Kunden die passenden Artikel zu sehen bekommen, sind diese Probleme letztendlich gesellschaftszerstörend. 

Ihr eigenes Anti-Amazon-Buch wird natürlich auch über Amazon verkauft – ist das nicht etwas doppelmoralisch?

Ich würde mein Buch nicht als Anti-Amazon Buch bezeichnen, sondern als ein Buch, das eine Evolution aufzeigt, so wie ich sie beobachtet und erlebt habe.

Die Autoren, die in den letzten zehn Jahren zu publizieren begonnen haben, wissen nicht einmal, was Jeff Bezos für sie getan hat. Aus meiner Sicht war Bezos von 1995 bis 2010 ein Revolutionär, ein neuer Gutenberg, ein Verteidiger des First Amendments (der 1. Zusatzartikel der US-Verfassung, der u. a. Rede- und Pressefreiheit sicherstellt), ein Erfinder, und ein Geschäftsmann der neue Märkte erschlossen hat, die andere übersehen haben. Und so er hat es geschafft, dass heutzutage die meisten Konsumenten Amazon als „den Buchhändler” sehen und ich mein Buch auf Amazon anbieten muss. 

Ich glaube aber, dass Amazon, und vielleicht auch Jeff Bezos selbst, mein Buch gefällt. Mein Buch ist erst das dritte Buch, das von jemandem geschrieben wurde, der bei Amazon gearbeitet hat. Obwohl Amazon auf die beiden anderen Bücher negativ reagiert hat, haben sie zumindest bis jetzt an meinem Buch keine Kritik geübt. Ich glaube, dass das so ist, weil mein Buch fair und konstruktiv ist. Wahrscheinlich findet es sogar Amazons Führungsebene interessant.  

Vielen Dank für das Gespräch!

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Geschrieben von Markus Gärtner




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